Stefan, du, sag mal...

28. Juli 2021, geschrieben von Stefan

"In Deutschland muss niemand auf der Straße leben". Stefan, der knapp 20 Jahre lang eine Einrichtung für wohnungslose Menschen geleitet hat, räumt mit diesem und anderen Vorurteilen gegenüber Wohnungslosen auf. Er gibt Einblicke in den Alltag von Menschen auf der Straße und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Er skizziert rechtliche Hintergründe, gibt Anregungen, wie jede*r von uns helfen kann und beantwortet uns die Frage: Warum müssen Menschen in Deutschland auf der Straße leben?

Was Stefan erzählt, haben einige aus unserem Team live erlebt, genauso wie die Stigmatisierung, die damit einhergeht, wenn man einen Job sucht. Mit HEYHO wollen wir uns für die Potenziale von Wohnungslosen starkmachen und denen eine Stimme geben, die in der Öffentlichkeit selbst keine haben.

Dieser Text ist deutlich länger als unsere anderen Artikel. Wir versprechen Dir aber, es lohnt sich. Zehn Minuten voller ungeschönter Einblicke in die Wohnungslosigkeit, zehn Minuten Deiner Zeit, die Deinen Blick auf wohnungslose Menschen vielleicht ein Stück weit verändern. Der Text liegt Stefan und uns sehr am Herzen. Vielleicht liest Du ihn jetzt gleich oder Du speicherst ihn Dir für später, vielleicht teilst Du ihn mit einem befreundeten Menschen – wir freuen uns sehr, wenn du dir diese zehn Minuten nimmst.

Ein paar Worte vorweg

Wir kennen sie alle, die Menschen, die in unseren Innenstädten am Straßenrand sitzen und betteln, in Häusernischen oder auf Entlüftungsschächten liegen und schlafen, in Grüppchen zusammenhocken und saufen, einen anschnorren, manchmal laut und unangenehm auffallen. Häufig sehen sie völlig abgerissen und verwahrlost aus, sind schmutzig, stinken und sind in Lumpen gehüllt. Menschen, von denen wir kaum Notiz nehmen, achtlos oder verachtend an ihnen vorübergehen. Es sind Menschen, über die wir gar nicht genauer nachdenken wollen, halten sie uns doch die Schatten unseres Wohlstandes so deutlich vor Augen.

Die Rede ist von Wohnungslosen. Menschen, die, ihrer Würde beraubt, im Schatten unserer Gesellschaft irgendwie überleben. Aber überleben ist kein Leben.

Diese Menschen, die Du im öffentlichen Raum wahrnimmst, sind nur die kleine Spitze des Eisbergs, der sich im nichtsichtbaren Bereich unserer Gesellschaft unter dem Begriff der Wohnungslosigkeit in Wirklichkeit entfaltet. Wohnungslosigkeit in Deutschland ist ein viel größeres und vor allem zunehmendes Problem, das werden wir noch sehen.

Dieser Text soll Dich aufrütteln, Dich wach und sensibel dafür machen, dass in unser aller unmittelbaren Nachbarschaft Menschen in prekären Lebensumständen leben (müssen) und dort Dinge passieren, die wir uns überhaupt nicht vorstellen können. Lebensumstände, in denen es tatsächlich um das blanke Überleben geht. Wo Gewalt, Prostitution, Kriminalität und Krankheit an der Tagesordnung, ja sogar lebensbestimmend sind.

Was heißt es eigentlich, wenn ich als obdachlose, heroinabhängige Junkini krank werde und mich nicht mehr prostituieren kann, aber unbedingt die Kohle für das benötigte Zeug zusammenkriegen muss? Was heißt es, wenn ich morgens im Schlafsack im Kircheneingang aufwache und kacken muss, aber kein Klo vor Ort ist? Ein Problem, das sich in Corona-Zeiten noch unendlich verschärft hat.

Vielleicht gelingt es mit diesem Text ein wenig Hoffnung zu den Hoffnungslosen zu bringen und den Würdelosen ein wenig Würde zurückzugeben, weil Du, liebe Leserin und lieber Leser, spätestens nach dem letzten Buchstaben nie wieder einfach an einem dieser Menschen vorbeigehen wirst, ohne etwas zu geben und sei es nur ein Lächeln! Ja, ein Lächeln: denn gesehen werden, irgendeine Art emotionaler Zuwendung ist neben ein paar erschnorrten Euros häufig das schönste Erlebnis eines Tages im Leben dieser Menschen. Einen kurzen Moment zu spüren, dass man doch nicht gänzlich unsichtbar ist.

"In Deutschland muss niemand auf der Straße leben"

Kannst Du Dir vorstellen, ein Leben zu führen, in dem Du, egal wo Du hinkommst, nicht gewollt bist? Ein Leben, in dem die Menschen an Dir vorbeigehen, als seist Du Luft, oder Dich mit verachtenden Blicken strafen? Ein Leben, in dem Du morgens vielleicht nicht weißt, wo Du abends schläfst, abends nicht weißt, ob Du morgen Essen hast, nicht weißt, wo Du Dich Waschen kannst, obwohl Du Dich eingepisst oder vollgekotzt hast, Du keine saubere Wäsche mehr besitzt – und Du in diesem Zustand die ganze Zeit im öffentlichen Raum sitzen musst? Was macht das mit einem Menschen? Was macht es mit einem Menschen, wenn ein Arzt Dich nicht wirklich behandeln will, weil Du stinkst und schmutzig bist und Dir sagt: "Komm wieder, wenn Du gewaschen bist!", es aber keinen Ort gibt, an dem Du Dich waschen kannst? Was macht es mit einem Menschen, wenn in der U-Bahn die Menschen das Abteil wechseln, weil Du einsteigst, oder Dir gar Gewalt antun, einfach weil Du so bist, wie Du gerade bist?

Ich selbst habe fast 20 Jahre lang eine Einrichtung für wohnungslose Menschen in der schönen und beschaulichen Kleinstadt Lüneburg im Norden von Niedersachsen geleitet und dort eine Menge Geschichten erlebt. Ich habe gelernt, unsere Gesellschaft aus den Augen der Betroffenen zu sehen und all die Not, all das Elend, die Armut, die Gewalt, die "wir" diesen Menschen gegenüber ausüben, hautnah erlebt. Ja, richtig gelesen, die Gewalt, die wir diesen Menschen antun, an der wir alle Verantwortung tragen, wie bei so vielen anderen Dingen, die auf dieser Welt schieflaufen, auch.

Ich möchte Euch zeigen, wie groß das Problem der Wohnungslosigkeit in Deutschland eigentlich ist, was Wohnungslosigkeit bedeutet, wie das Leben derjenigen aussieht, nachdem oder bevor Du achtlos oder verachtend an ihnen vorbeigegangen bist, vielleicht noch ein paar Cent wohlwollend in einen ausgedienten Coffee to Go Becher gedroppt hast und dachtest: "Armer Assi, würde er doch nur, dann könnte er auch...", und noch gönnerisch gesagt hast: "Aber keinen Schnaps kaufen!!"

Vielleicht bist Du auch voll Empathie und Mitgefühl vorbeigegangen, hast noch lange ohnmächtig darüber nachgedacht, wie Du diesem Menschen hättest helfen können und hast gerne den Euro gegeben. Oder Du bist vielleicht sogar in Kontakt gegangen, hast gefragt, was gerade wirklich helfen würde.

Ganz im Ernst, das sind die meistgehörten Stereotypen, die ich in meiner Laufbahn in der Wohnungslosenhilfe gehört habe. "Würde er doch nur…, dann könnte er auch"; "der soll mal arbeiten gehen, dann kann der sich auch eine Wohnung leisten"; "in Deutschland muss niemand auf der Straße leben", was für ein Wahnsinn! Wenn das niemand müsste, dann würde es auch keiner tun. Ich habe noch keinen Wohnungslosen gesprochen, der sein Leben auf der Straße geil findet, freiwillig "dorthin gezogen" ist, um damit sein Bild von unendlicher Freiheit zu verwirklichen. In der Wohnungslosigkeit ankommen ist der krönende Abschluss kumulierter Probleme, ein Teufelskreis, aus dem es für viele kaum ein Entkommen gibt, schon gar nicht ohne intensive Dritthilfe.  

Unendlich oft bin ich der Frage begegnet, wie und ob geholfen werden kann. Ist es gut Geld zu geben, oder lieber ein Brötchen, weil von der Kohle ja eh nur Schnaps und Drogen gekauft werden. Mal im Ernst, es ist doch egal, was derjenige mit dem Geld tut. Ein Alkoholkranker hört nicht auf zu saufen, nur weil er kein Geld hat. Sucht ist so mächtig, dass sie Dich in die Kriminalität treibt. Du gehst eben stehlen, ziehst Leute ab, prostituierst Dich, dealst selbst mit Drogen oder machst sonst was für Zeug, um an die Substanz deiner Wahl zu kommen. Mittellosigkeit ist nicht der Motivator etwas gegen die Sucht zu tun. Süchte sind heute anerkannte Krankheiten. Wir haben längst erkannt, dass allein guter Wille da nicht hilft. Suchtkranke müssen qualifiziert behandelt werden, um eine Chance zu haben, die Sucht zu besiegen.

Und hier haben wir sie wieder, die Spitze vom Eisberg. Warum sind Menschen denn überhaupt süchtig? Klar ist, dass die Lebensumstände eine riesige Rolle spielen. "Mein Leben ist so scheiße, dass ich lieber breit bin, damit ich es ertrage", ist ein vielgehörtes Statement der Menschen, über die ich hier spreche. Nicht zu ertragende Lebensumstände, Erlebnisse, die nicht verarbeitet werden konnten. Es müssen also auch und vor allem die darunterliegenden Probleme, Traumata und psychischen Erkrankungen behandelt werden, um die Sucht wirklich besiegen zu können. Ein Weg, den viele einfach nicht schaffen, so wie ein Ertrinkender auch nicht erst an Land schwimmt, um dann gerettet zu werden.

Aber nun zurück zur eigentlichen Frage. Gib Geld, das hilft am besten. Du nimmst damit den Druck, das Geld auf oft kriminelle oder entwürdigende Art und Weise besorgen zu müssen. Und wem ist mit 20 Brötchen, die Dir die Leute wohlwollend über den Tag hinweg schenken, wirklich geholfen? Geh auf diese Menschen zu, sprich sie an, frage was hilft, was Du tun kannst, engagiere dich. Würden wir alle unsere Wahrnehmung schulen und aufmerksam, achtsam, nicht nur auf uns selbst schauend, durchs Leben gehen, so könnten wir mit wenig Engagement Großes bewirken. Wir könnten dann unseren Teil dazu beitragen, diesen Seelen zu helfen, einen kleinen Funken ihrer Würde, die ihr Lebensweg ihnen genommen hat, zurückzuerlangen. Würde ist ein Grundrecht. Artikel 1 unseres Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar!

Wenn Du Lust und Kapazitäten hast zu helfen, dann schau doch bei Dir zu Hause in der näheren Umgebung nach Einrichtungen und Diensten oder Projekten, die sich in der Wohnungslosenhilfe engagieren und frage, ob sie Unterstützung brauchen. Zwei großartige Vereine, die ich Euch dabei unbedingt ans Herz legen will sind Strassenblues und GoBanyo, die beide in Hamburg aktiv sind.

Wie groß ist denn nun das Problem der Wohnungslosigkeit in Deutschland?

Ich finde die Anzahl der Wohnungslosen zwar eigentlich die unwichtigere Information, weil schon ein einziger Mensch ohne eigene Wohnung oder einen Platz in einer qualifizierten Facheinrichtung zu viel ist, aber sie hilft natürlich die Dimensionen des Problems quantitativ zu verdeutlichen.

Es gibt in Deutschland keine amtliche Definition von Wohnungslosigkeit. Wenn hier von Wohnungslosen die Rede ist, dann geht es um alle Menschen, die in Deutschland nicht über eigenen mietvertraglich gesicherten Wohnraum verfügen, in Schlichtunterkünften, wie Baracken, Wohnwagen, in Schrebergartenhäusern (das ist offiziell nicht erlaubt) wohnen, oder die sich bei Freunden, Bekannten oder Verwandten durchschlafen. Der größte Teil der Wohnungslosen wohnt in Übergangsunterbringungen, den so genannten Obdächern der Städte und Kommunen, oder in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe freier Träger.  Die genaue Zahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland ist unbekannt.

Menschen, die ohne jeden Schutz auf der Straße leben, werden als obdachlos oder als straßen-obdachlos bezeichnet.

Es gibt in Deutschland keinen Rechtsanspruch auf eine Wohnung. Es gibt aber ein Recht auf ein Dach über dem Kopf. Dieser Anspruch wird durch die sogenannten Obdächer erfüllt. Jede Stadt, jede Kommune ist verpflichtet dort sich als obdachlos meldenden Personen ein Dach über dem Kopf zu gewähren. Das leitet sich letztlich aus Artikel 1 des Grundgesetzes ab, weil er oder sie schutzlos den Gefahren ausgeliefert ist, die sich aus dem fehlenden Wohnraum ergeben.

Häufig handelt es sich bei den Obdächern um alte, heruntergekommene Schlichtunterkünfte, irgendwo in der Peripherie der Städte oder Kommunen. Häuser in absolutem Substandard, in denen keiner mehr wohnen mag. Vielerorts wird der Aufenthalt in Obdächern zeitlich begrenzt, oder es wird versucht die obdachlose Person wieder an ihren Herkunftsort zu verweisen, weil die Unterbringung natürlich Geld kostet, welches in Zeiten leerer Staatskassen ungern für Menschen ausgegeben wird, die keinen produktiven Beitrag für unsere Gesellschaft leisten. Solche Befristungen oder Verweisungen sind illegal, was so viel bedeutet wie, dass es sich Städte und Kommunen leisten Rechtsbruch zu begehen. Ein Paradebeispiel hierfür findest Du weiter unten. Eine andere Möglichkeit, es den Obdachlosen ordentlich ungemütlich zu machen, sind sogenannte Übernachtungsstellen. Dort darfst Du zum Abend hinkommen und musst am Morgen die Einrichtung wieder verlassen. Und das jeweils mit Deiner gesamten Habe. Für den Tag gibt es dann, wenn es gut läuft, Tagesaufenthalte, weil nämlich die Verpflichtung besteht, Obdachlosen einen Aufenthalt für den gesamten Tag zu gewähren. In Obdächern gibt es sehr oft Mehrbettzimmer. Das heißt, dass Du mit Menschen, die Du in der Regel überhaupt nicht kennst, die ständig wechseln, in einem Zimmer schlafen musst. Oft gibt es nicht mal einen Schrank, in dem Du Deine persönlichen Sachen einschließen kannst. Wieviel bei Menschen, die eh nichts haben, geklaut wird, muss ich wohl nicht erwähnen. Wer täglich ums Überleben kämpft, kennt keinen Freund und keinen Feind, wenn es drauf ankommt.

Die vorliegenden Zahlen über die Anzahl von Wohnungslosen basieren auf Schätzungen, überwiegend durch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Wohnungslosenhilfe, die Meldungen der Hilfeanbieter zusammenträgt. Auf deren Homepage findest Du noch mehr interessante Informationen, zum Beispiel über die genauere Zusammensetzung, wie zum Beispiel Anzahl wohnungsloser Frauen und Kinder.

Die folgende Grafik gibt Dir einen guten Überblick:

Zahlen zur Wohnunglosigkeit in Deutschland

Die Zahlen sind erschreckend und alarmierend. 858.000 Menschen verfügen also bereits 2016 über keinen eigenen, mietvertraglich abgesicherten Wohnraum! Sie gehören zu den oben genannten Menschen, die in Obdächern, Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe oder der Flüchtlingshilfe unterkommen oder sich bei Freunden und Bekannten durchschlafen.

52.000 Menschen leben ohne ein Dach über dem Kopf auf Deutschlands Straßen.

Ich möchte auf den Anteil deutscher oder nicht deutscher Wohnungsloser nicht näher eingehen. Alle hier in der Statistik aufgeführten Menschen haben nicht nur moralisch, sondern insbesondere auch einen rechtlichen Anspruch darauf, hier bei uns zu leben. Erwähnenswerter ist dann eher, dass sie zum Teil noch erheblich mehr Diskriminierungen hinnehmen müssen als deutsche Wohnungslose. Hierfür ein kurzes Beispiel:

Die auf der Straße lebenden EU-Bürger haben aufgrund der Personenfreizügigkeit in der EU einen Anspruch darauf, sich hier aufzuhalten. Viele kommen in der Hoffnung hier Arbeit zu finden und ihre Familien in der Heimat unterstützen zu können. Die Realität sieht anders aus. Sie dürfen zwar hier sein, haben aber in der Regel keinen Anspruch auf Sozialleistung. Bleibt der oft illegale Job aus, vegetieren diese Menschen ohne jede Unterstützung auf der Straße und kämpfen ums Überleben. 

Worauf sie allerdings Anspruch haben, ist die Unterbringung in einer Notunterkunft. In vielen Städten und Kommunen wird ihnen dieses Recht jedoch verwehrt. Aber Ihr wisst ja, wo kein Kläger, dort kein Richter, wobei formal sogar die Polizei eine Unterbringung veranlassen müsste. Diese kann und muss sogar von der Polizei veranlasst werden.

So viel zu den Zahlen. Du findest ganz leicht nähere Informationen über die genaue Zusammensetzung Wohnungsloser.

Aber was sind das denn für Menschen, die wohnungslos sind, warum haben sie keine Wohnung oder finden den Weg zurück in die „normale Gesellschaft“ nicht?

Das Merkmal "wohnungslos" ist für mich heute mehr ein Sammelbegriff oder Sammelbecken für Menschen, die aufgrund komplexer Problemlagen letztendlich auf der Straße gelandet sind, wo, wie oben schon kurz angeklungen, die Wohnungslosigkeit nur die Spitze des Eisbergs ist. Junge Menschen, die mit 18 Jahren aus der Jugendhilfe auf die Straße entlassen werden, vollkommen unsozialisiert, Suchtkranke, psychisch Kranke, oft vereint als multiple Problemlagen in einem Menschen. Im Fachdeutsch der Wohnungslosenhilfe werden diese im §67 des Sozialgesetzbuch XII als Menschen in besonderen Lebenslagen in Verbindung mit sozialen Schwierigkeiten bezeichnet, bei denen die sozialen Schwierigkeiten beseitigt, gelindert oder deren Verschlimmerung zu verhüten ist, um die besondere Lebenslage zu überwinden.

Das heißt, dass wenn zum Beispiel ein Suchtkranker (soziale Schwierigkeit) seine Wohnung verloren (besondere Lebenslage) hat, da er das Geld für die Miete zur Finanzierung seiner Sucht benötigte, muss erst die Sucht behandelt werden, damit die besondere Lebenslage überwunden werden kann. Die Aufgabe der Wohnungslosenhilfe wäre dann, bei Aufnahme in eine Einrichtung, neben der Absicherung der basalen Lebendgrundlagen (Wohnen, Essen, medizinische Versorgung), zu versuchen, zum einen, bei der betroffenen Person die Motivation zu wecken, an der eigenen Sucht zu arbeiten und zum anderen, einen Platz in einer entsprechenden Facheinrichtung zu organisieren. Der Weg dorthin ist steinig und schwer und ist bei vielen von vielen, vielen Rückschlägen, also Rückfällen geprägt. Aber warum? Auch die Sucht ist wieder so eine Spitze des Eisberges, weil sie in der Regel auch eine bestimmte Funktion hat. Das könnten andere Probleme sein, wie zum Beispiel die Verdrängung eines nicht verarbeiteten Liveevents oder sonst was für ein Problem, das mit der Droge selbst medikamentiert oder verdrängt wird. Da kannst Du Deiner Fantasie freien Lauf lassen... Häufig sind es auch die Perspektiven im Leben nach der Sucht. Was bieten sich für Chancen zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt für jemandem mit schlechtem Bildungsstand, Vorbestrafung und Drogenkarriere? So stößt Du dann von einer Spitze vom Eisberg auf die nächste.

Erschwerend hinzu kommt, dass viele Hilfeangebote von den Betroffenen als nicht hilfreich, sondern eher sogar als repressiv empfunden werden. Wenn ein psychisch kranker Mensch aufgrund von selbst- oder fremdgefährdendem Verhalten gegen seinen Willen in die Psychiatrie gebracht wird und hier aus seiner Sicht Gewalt, wie Fixierung oder Zwangsmedikation erfährt, empfindet er psychiatrische Hilfen später oft als Repressalien und hat Angst sich dort helfen zu lassen. Das führt häufig zu Chronifizierungen von Erkrankungen und versperrt den Weg zurück. Ein psychisch kranker Klient in der Einrichtung, die ich in Lüneburg geleitet habe, hat bei einem anstehenden psychiatrischen Gutachten mal zu mir gesagt, es gäbe keine Gutachten, sondern nur Schlechtachten, weil er noch nie etwas Gutes über sich in solch einem wie auch immer-achten gelesen hat.

Wege aus der Obdachlosigkeit

Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, empfindbar zu machen, dass ein Mensch, wenn er einmal die Leiter des sozialen Abstiegs bis in die Wohnungslosigkeit hinabgeklettert ist, im Grunde kaum leistbare Anstrengungen auf sich nehmen muss, um wieder in den Genuss eigener vier Wände zu kommen. Deshalb ist es auch die Regel, dass Menschen, die erstmal in der Wohnungslosigkeit gelandet sind, in diesem Teufelskreislauf viele Jahre gefangen sind.

Der herkömmliche Weg wäre die Beseitigung der sozialen Schwierigkeiten durch Behandlung, Therapie und was sonst noch nötig wäre, über das Wohnen in einer Einrichtung, oft mit stufenweisem Bewährungsaufstieg von einem eigenen Zimmer über Probewohnen in einer Übergangswohnung, bis dann die eigene Wohnung zugetraut und gefunden wird.

Der im Moment modernste und, wie ich empfinde, sinnvollste Ansatz, ist der des Housing First. Hier die Definition aus Wikipedia, die diesen Ansatz sehr gut beschreibt:

Im Unterschied zu anderen Programmen müssen sich die Obdachlosen bei diesem Ansatz nicht durch verschiedene Ebenen der Unterbringungsformen für unabhängige und dauerhafte Wohnungen "qualifizieren", sondern können direkt in eine „eigene“ Wohnung ziehen. Das zumeist bestehende Stufenmodell, in dem ein Umzug zwischen verschiedenen Wohnformen vorgesehen ist (beispielsweise von wohnungslos zum Nachtquartier zum Übergangswohnen und dann erst in die eigene Wohnung) bedeutet zwar, dass auch hier am Ende die eigene Wohnung steht. Jedoch ist zumeist vorgesehen, dass mit dem Einzug in die eigene Wohnung auch die Unterstützung endet.

Das ist bei Housing First anders: Die Unterstützung wird bedarfsgerecht in der eigenen Wohnung kontinuierlich angeboten. Zudem wird auch keine Abstinenz von Alkohol oder anderen Substanzen als Voraussetzung verlangt. Unterstützung und Programme können in Anspruch genommen werden, sind aber nicht verpflichtend. Der Ansatz basiert darauf, dass eine obdachlose Person oder Familie als erstes und wichtigstes eine stabile Unterkunft braucht und andere Angelegenheiten erst danach angegangen werden sollten. Die meisten anderen Programme arbeiten hingegen mit einem Modell der "Wohnfähigkeit", was bedeutet, dass andere Probleme, die zur Wohnungslosigkeit geführt haben, zuerst behoben werden müssen.

Auch in Deutschland wird dieser Ansatz flächendeckend favorisiert. Das Problem in der Umsetzung ergibt sich allerdings durch den fehlenden Wohnraum und der mangelnden Bereitschaft von Vermieter*innen, ihre Wohnung an die hier beschriebenen Wohnungen zu vermieten. Aber das Thema Wohnungsmarkt ist vielleicht mal einen eigenen Artikel wert.

HEYHO-Mitgründer und Sozialarbeiter Stefan

Ich hoffe sehr, dass dieser Artikel Euer Bewusstsein für das Problem der Wohnungs- und Obdachlosigkeit geöffnet hat und Ihr ab heute mit einem anderen Blick durch unsere Städte geht und vielleicht den einen oder anderen Euro mit Liebe in den ausgedienten Coffee to Go Becher gebt, der vor dem Menschen auf dem Boden steht, den Ihr vorher vielleicht gar nicht wahrgenommen habt. Schreibt uns gern Euer Feedback, Eure Gedanken, Anregungen und Ideen, wie wir Obdachlosigkeit beseitigen oder lindern können oder dafür sorgen können, dass es den Betroffenen ein klein wenig besser geht.

Ihr wollt mehr lesen? Dann kann ich Euch diese beiden Artikel ans Herz legen: Dominik Bloh, der selbst elf Jahre auf der Straße gelebt hat, spricht über "bedingungsloses Wohnen" und hier zeichnet Frank Dahlmann in der brand eins nach, warum es immer noch Obdachlose gibt.

 

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